documenta
Impressionen von der dOCUMENTA 13 in Kassel (Nachtrag). Von Kristina Buchs Schmetterlingsgarten bleiben nach der Documenta nur Puppenhülsen übrig
Die Düsseldorferin, Biologin und jetzt Kunst studierende Kristina Buch hat als jüngste Teilnehmerin (29 Jahre) der diesjährigen Documenta auf dem Friedrichsplatz vor dem Staatstheater in Kassel den Schmetterlingsgarten „The Lover“ errichtet (siehe auch „Ein Schmetterlingsgarten ohne Schmetterlinge und eine Welle ohne Welle„). Damit die heimischen Schmetterlinge ideale Lebensbedingungen finden, hat sie den Garten mit 180 verschiedenen, faltergerechten Futterpflanzen bestückt. Während der 100 Tage der Documenta wird sie an die 3000 Schmetterlinge in diesem Garten aussetzen.
Buch lässt die Falter in ihrer extra für die Documenta angemieteten Wohnung schlüpfen und bringt jeden Tag rund 30 Falter, sobald sie fliegen können, in den Garten. Dann haben die Falter die freie Wahl, sich auch für andere Biotope mit entsprechenden Nektarpflanzen zu entscheiden. Das ist sicher ganz im Sinne der künstlerischen Leiterin der Documenta Carolyn Christow-Bakargiew (CCB), die, wie man liest, ein Wahlrecht für Hunde gefordert haben soll. Während unseres Besuches in Kassel haben wir übrigens keinen einzigen Falter auf dem vom Verkehr umtosten Platz gesehen. Was schließen wir daraus?

Aber etwas wird von Buchs Aktion über die Documenta hinaus bleiben: die leeren Puppenhülsen. Buch lebt während der Documenta in Kassel und wird jeden Tag in einer Vitrine in der Documenta-Halle die leeren Puppenhülsen der geschlüpften Falter „aufspießen“. Den Titel der Arbeit „The Lover“ kann ich allerdings immer noch nicht nachvollziehen. Eine Übersicht aller dreizehn Artikel der “Impressionen zur dOKUMENTA (13)” meines Documenta-Besuchs finden Sie hier.
… vielleicht ist er doch gar nicht so frei wie wir uns den vorstellen, vielleicht ist er genauso wie wir durch seine Bedürfnisse und Sehnsüchte auch gebunden, an die Süße des Nektars oder zum Fliegen in der Weite
[Kristina Buch im Deutschlandradio]
Übersicht aller dreizehn Artikel der „Impressionen zur dOKUMENTA (13)“ vom 13. Juli bis 23. Juli 2012

- 13. Juli 2012 (1): Die Karlsaue ins Bild “geruckt” (Haus-Rucker-Co., „Rahmenbau“)
- 16. Juli 2012 (2): Viel Wind um nichts (Friedrichsplatz, Carolyn Christow-Bakargiev, Rotunde, Fridericianum, Ryan Gander)
- 17. Juli 2012 (3): Der Fliegende Teppich (Documenta-Halle, Thomas Bayrle, Yan Lei)
- 17. Juli 2012 (4): Penone und der Bronzebaum (Karlsaue, Giuseppe Penone)
- 18. Juli 2012 (5): Laras Schrotthaufen im wilden Norden (Haupt-/ Kulturbahnhof, Jonathan Borofsky, Lara Favaretto)
- 18. Juli 2012 (6): Ein Bürohaus als Bühne (Haris Epaminonda/ Daniel Gustav Cramer)
- 19. Juli 2012 (7): Vom Schlammhügel zur Näherei (Nordflügel am Kulturbahnhof, Michael Portnoy, István Csákány, Seth Price)
- 19. Juli 2012 (8): Ein Theaterstück und ein Lamellenvorhang (Nordflügel des Kulturbahnhof, William Kentridge, Haegue Yang)
- 20. Juli 2012 (9): TÜV-geprüfte Galgen und ein Sanatorium (Karlsaue, Sam Durant, Pedro Reyes)
- 20. Juli 2012 (10): Ein Boot im Baum, eine verzerrte Uhr am Fluss und eine Zeitreise im Schilf (Karlsaue, Shinro Ohtake, Anri Sala, Neue Galerie, Geoffrey Farmer)
- 21. Juli 2012 (11): Auf den Hund gekommen oder: Darsi ist immer dabei (Carolyn Christow-Bakargiew, Karlsaue, Brian Jungens, Pierre Huyghe, Apichatpong Weerasethakul)
- 21. Juli 2012 (12): Ein Schmetterlingsgarten ohne Schmetterlinge und eine Welle ohne Welle (Karlswiese, Song Dong, Massimo Bartolini, Friedrichsplatz, Kristina Buch, Claes Oldenborg)
- 23. Juli 2012 (13 und Schluss): In Kassel ist alles Kunst!
- 20. August 2012 (Nachtrag): Freie Wahl des Fluggebietes für Schmetterlinge (Friedrichsplatz, Documenta-Halle, Kristina Buch)
Impressionen von der dOCUMENTA 13 in Kassel (13 und Schluss)
„Das Rätsel der Kunst besteht darin, dass wir nicht wissen, was sie ist, bis sie nicht mehr dass ist, was sie war“ [Carolyn Christov-Bakargiev]
Und zum Schluss dieser Artikelreihe zur Documenta (13) in Kassel, nach dem Rätsel von CCB, noch einige visuelle Rätsel nach dem Motto „Ist das Kunst oder kann das weg?“









Impressionen von der dOCUMENTA 13 in Kassel (12)
Mitten auf der Karlswiese vor der Orangerie in der Karlsaue hat der chinesische Installations- und Performance-Künstler Song Dong einen sechs Meter hohen Berg aufgeschüttet: „Doing Nothing Garden“. Der Bonsaiberg besteht im Wesentlichen aus Zivilisationsmüll. Dieser ist Schicht für Schicht mit organischen Abfällen und Erde überdeckt und mit Gras und Wildkräutern überwachsen (siehe Foto). Abends sollen die Neon-Schriftzeichen „Doing Nothing“ zu lesen sein. Ein künstlicher Berg in einer Kunstlandschaft; „gleichwohl ist er ein in sich lebender Organismus und beweist so, dass im richtigen Kontext sogar Nichtstun schöpferische Wirkung entfalten kann“ [Katalog].

Die deutsche Künstlerin Kristina Buch hat eine ähnliche Arbeit auf dem Friedrichsplatz vor dem Staatstheater Kassel geschaffen. Dieses Werk erinnert aber eher an die erste Documenta 1955, die im Rahmen der Bundesgartenschau stattfand. Ein quadratischer Miniatur-Garten wächst auf einem erhöhten Podium. Dieser „hängende“ Garten wurde mit Brennnesseln und Disteln rund um eine farbige Blütenpracht bepflanzt; der ideale Garten für Schmetterlinge. Dazu wurden dort Hunderte Schmetterlingspuppen ausgelegt. Sie sollen die Blumeninsel bevölkern. Ich konnte leider keinen einzigen Falter ausmachen (siehe Foto).

So ähnlich erging es mir bei der Arbeit des Italieners Massimo Bartolini, „Wave“ genannt. Während unseres Besuches war die Welle nur ohne Welle zu sehen. Sie besteht aus einem in die Karlswiese eingelassenen rechteckigen, mit Wasser gefüllten Bassin, umgeben von einem Kornfeld. In dem Bassin soll eine Welle gleichmäßig hin und her schwappen, eine Welle, die nirgendwo hin wandern kann und niemals ausläuft (siehe Foto).

Das war der letzte Vormittag in Kassel, den wir noch einmal in der Karlsaue und an der Fulda verbrachten, und wir warfen noch einen Blick auf Claes Oldenborgs große „Spitzhacke“ (1982, Documenta 7) am Ufer der Fulda. Morgen gibt es den letzten Beitrag zur Documenta mit visuellen Impressionen.

Auf Wiedersehen bis 2017 in Kassel zur Documenta 14. www.documenta.de
Impressionen von der dOCUMENTA 13 in Kassel (11)

Nach zehn Artikeln ist es Zeit für eine Zwischenbilanz. Oder wird es eine Schlussbilanz? Schon seit Monaten grübelt die Kunstwelt über das Konzept der Documenta 13, bzw. das Konzept der künstlerischen Leiterin Carolyn Christow-Bakargiew (CCB).
Eigentlich sollte das Konzept ja aus dem „Brain“ im Fridericianum hervorgehen (siehe „Viel Wind um nichts„), aber das Durcheinander bzw. die Konzeptlosigkeit setzte sich auch an den anderen Ausstellungsorten fort.
Es fehlen Schwerpunktsetzungen in den Häusern und Außenräumen. Man braucht einen Tag, um zu erkennen, dass es kein inhaltliches und räumliches Konzept gibt (aber das hat CCB ja von Anfang an gesagt!).
Überall geht es durcheinander: Ökologisches, Wellness, Couscous-Köchinnen, Hitlers Handtuch, fair gehandelte Buttermilch, Gruppen-therapeutisches, Feministisches, Wissenschaft, betende Motoren, fühlende Steine, Ameisen, Mangoldzucht auf einer Fähre, Teilchentheorie, Geschichte und Politik. Das war in der Rotunde, im „Brain“, bereits zu ahnen. Mit Malerei und Fotografie kann CCB wenig anfangen. Installationen sind angesagt.
Die Karlsaue ist mit Holzhütten „aus dem Baumarkt“ überschwemmt; teilweise mit banalem Inhalt: Eine Aufklärungsbude zum Thema Nationalsozialismus ist nun wirklich zu einfach gedacht und esoterischer Kram soll doch bitte Privatsache bleiben. CCB und einige Künstler sonnen sich in vermeintlicher politischer Relevanz, die oftmals verbunden ist mit ästhetischer Dürftigkeit. Wenn Politik und Ökonomie scheitern, wie soll es dann die Kunst richten?

CCB sieht keinen Unterschied zwischen Menschen und Hunden; wir sollten uns mehr in die Wahrnehmungswelt der Vierbeiner hinein fühlen (so etwas Ähnliches hat sie auch über Tomaten gesagt). Dabei ist dann zum Beispiel Brian Jungens (Kanada) Hundespielplatz in der Karlsaue herausgekommen, den man übrigens nur mit einem Vierbeiner betreten darf. Ganz witzig hingegen ist noch der Windhund mit dem rosaroten Bein des französischen Künstlers Pierre Huyghe anzusehen. Aber reicht das für eine internationale Kunstausstellung aus?
Jeder Geschmack ist anders. Es gibt aber einige allgemeingültige Theorien und Kriterien, die nicht einer gewissen Beliebigkeit zum Opfer fallen sollten. Auch „richtige“ Kunst ist in Kassel zu sehen, man muss nur etwas suchen und welche Künstler wirklich Bestand haben, werden die nächsten Jahre zeigen. Ist die Documenta etwa auf den Hund gekommen? Nein, sie ist immer noch eine der wichtigsten Kunstausstellungen der Welt. Und dieses Mal ist eben Darsi immer dabei. Der „Geist der Karlsaue“ von Apichatpong Weerasethakul aus Thailand thront über allem. Was würde Malteserhündin Darsi dazu sagen, wenn sie könnte? Oder liefe sie vor dem Geist davon?

Morgen Vormittag steht noch einmal ein Besuch in der Karlsaue an. www.documenta.de
Impressionen von der dOCUMENTA 13 in Kassel (10)
Der japanische Maler und Bildhauer Shinro Ohtake hat eine Sprache entwickelt, die auf Bilder der Massenmedien reagiert. In Kassel hat er im hinteren Teil der Karlsaue, nahe der Fulda, das Hexenhaus „Mon Cheri: A Self-Portrait as a Scrapped Shed“ gebaut. Eine vorgefertigte Hütte hat er um Objekte und Materialien ergänzt, die er in verschiedenen Ländern gesammelt hat (siehe Foto).

Die schreiend kirmesbunte Hütte erinnert an einen japanischen Imbissstand. Alle möglichen Alltagsmaterialien wie Neonschilder, Plakate, Fotos und verschiedene laufende Videos hat Ohtake in, auf und um die Hütte herum platziert. Hinzukommen Geräusche und Töne, die er akustisch eingefangen hat und die nun durch die Besucher, wenn sie um das Werk herumgehen, aktiviert werden. Und hier sehe ich auch endlich das bereits aus zahlreichen Abbildungen bekannte hängende Boot im Baum in Natura (siehe Foto und ein Video). Ob dies eine Erinnerung an einen Tsunami oder die Installation eine „Lebens-Collage“ darstellt, möge jeder Betrachter für sich entscheiden.

Am Ende des Hirschgrabens, einem der beiden Kanäle, die radial von der Orangerie aus in den Park verlaufen, findet man eine merkwürdig verzerrte Uhr: Obwohl der Betrachter frontal auf das Zifferblatt schaut, erhält er den Eindruck die Uhr stünde um etwa 45 Grad verdreht. „Clocked Perspective“ hat der in Berlin lebende Albaner Anri Sala sein irritierendes Werk genannt. Da die mechanische Uhr zur Ellipse verzerrt ist, muss sie auch ein elliptisches Getriebe aufweisen, so dass die Zeiger beschleunigt und verlangsamt werden. Dadurch zeigt die Uhr trotz der Verzerrungen immer die richtige Zeit an (siehe Foto).

Zu den Hauptorten der Documenta, dem Fridericianum und der Documenta-Halle am Friedrichsplatz, den Grünflächen der barocken Karlsaue einschließlich der Orangerie und den industriellen Hallen am Hauptbahnhof, gehört auch die Neue Galerie. „Diese ehemals ‚Königliche Gemäldegalerie‘ genannte Einrichtung beherbergte in der Vergangenheit die landgräfliche Sammlung Alter Meister. 1976 wurde sie unter dem Namen ‚Neue Galerie‚ wieder eröffnet und dient nun der Ausstellung von Werken der Plastik, der Malerei und der Neuen Medien vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart“ [Katalog].

Im ersten Stock ist die fantastische Arbeit „Leaves of Grass“ des kanadischen Installationskünstlers Geoffrey Farmer zu bewundern. Er hat fünfzig Jahrgänge des Magazins „Life“ zerschnitten, Einzelteile auf Pappe geklebt und an Schilfhalmen befestigt. Entstanden sind so über tausend Silhouetten, die chronologisch hintereinander gestellt, eine irre und phantasievolle Zeitreise ergeben. Auf der anderen Seite dieser Installation sind die Figuren nach einzelnen Themen wie Fotografie, Geschichte, Prominente etc. angeordnet. Für mich eine der besten Arbeit der diesjährigen Documenta, die auch an einem hervorragenden Ort in der Galerie präsentiert wird (siehe Foto und ein Video).

Impressionen von der dOCUMENTA 13 in Kassel (9)
Wir sind zurück im „Künstlerdorf“ in der Karlsaue. Mitten im Landschaftspark, auf der zentralen Sichtachse zwischen der Orangerie und dem Schwanenteich, hat der US-amerikanische Künstler Sam Durant das hoch aufragende Holzkonstrukt „Scaffold“, ein Mittelding zwischen Klettergerüst und Aussichtsplattform, errichtet. Dass es ein Mahnmal gegen die Todesstrafe ist, erkennt man erst bei genauerem Hinsehen (siehe Foto).

Das Gerüst besteht aus einzelnen, ineinander verschachtelten Galgen. Noch deutlicher wird dies, wenn man auf das Gerüst klettert; erst dann sieht man, dass die Plattform keine normale Plattform ist, sondern eine seltsame Form aus Podesten, Toren und hoch aufragenden Pfosten aufweist. Einige Bauelemente erinnern an Falltüren. Größe und Material der einzelnen Galgen sollen so genau wie möglich mit der jeweiligen Originalkonstruktion übereinstimmen. Um den heutigen Bau- und Sicherheitsvorschriften zu entsprechen, waren Anpassungen notwendig. Zur Installation gehört eine chronologische Auflistung zur Verwendung dieser Galgen. Ein bedrückendes aber auch eindrucksvolles Werk.

Der mexikanische Künstler und Architekt Pedro Reyes hat in der Karlsaue ein Sanatorium errichtet (siehe Foto), in dem die typischen Krankheiten der Städter behandelt werden: Stress, Einsamkeit und Angstgefühle. Es gibt acht Behandlungsmethoden, die mit Placebos vorgenommen werden: Der Patient kann also seine Denkweise selbst korrigieren. Eine Behandlung war während unseres Besuches leider nicht möglich, da die behandelnde Ärztin eine typische Krankheit der Städter aufwies: Sie telefonierte ununterbrochen auf der Wiese vor dem Sanatorium (siehe Foto).

Auch den Kompatibilitätstest für Paare machten wir nicht mit: Beide Partner suchen sich jene Obstsorten aus, mit denen sie sich am meisten identifizieren können. Im Mixer werden diese Sorten dann zusammengerührt. Ob man zusammenpasst – das ist dann reine Geschmackssache. Putzig! Kunst mit heilender Sofortwirkung ohne Erfolgsgarantie?
Impressionen von der dOCUMENTA 13 in Kassel (8)
Ebenfalls im Nordflügel des Kulturbahnhofs ist eine der eindrucksvollsten Inszenierungen des südafrikanischen Künstlers William Kentridge, der 2006 auch im Berliner Guggenheim mit der Black Box eine Einzelausstellung hatte, zu sehen. Mein Foto gibt nur einen unzureichenden Eindruck der fantastischen Multimedia-Installation „The Refusal of Time“, in der eine pneumatische Pumpuhr arbeitet, wieder.

„Das große Zeittheater“, wie Kentridges grandiose Installation auch heißen könnte, handelt von der Entwicklung verschiedener Verfahren zur Normierung der Zeit im Industrie-Zeitalter. Es tauchen viele aus seinen Werken vertraute Motive wieder auf: Pneumatische Uhren, weitere mechanische Gerätschaften, Zylindermegafone, die von riesigen projizierten Metronomen und Filmen begleitet werden. Unbeschreibliche 28 Minuten eines Gesamtkunstwerks.

Weiter geht es in die angrenzende Halle, die ehemals von Güterzügen befahren wurde. Nebenan ist, getrennt durch einen Maschendrahtzaun, ein scheinbar noch aktiver Paketumschlagsplatz. Unmittelbar über den nicht mehr genutzten Gleisen hängen die schwarzen Jalousien der in Berlin lebenden Koreanerin Haegue Yang. Ihre Installation fügt sich perfekt in die Halle ein: „Approaching: Choreography Engineered in Never Past Tense“ verweist auf die Geschichte der Schwer- und Rüstungsindustrie in Kassel (siehe Foto).

Alle motorisierten Aluminium-Jalousien werden computerunterstützt gesteuert. Nach einer geisterhaften Choreographie schließen und öffnen sich die beweglichen Lamellen, fahren herauf und hinunter. Sie halten in immer wieder neuen Formationen an und stehen für eine Weile still; jedes Mal entsteht dadurch eine neue Skulptur. In vergrößertem Maßstab erinnert dies auch eine Modell-Eisenbahnanlage, auf der die Züge immer einmal wieder fahren und anhalten. Sehenswert.
Morgen geht es dann um die Werke in der Karlsaue.
Impressionen von der dOCUMENTA 13 in Kassel (7)
Der Nordflügel am Kulturbahnhof in Kassel besteht aus zwei langen, ehemaligen Lagerhallen mit alten verbeulten Rolltoren hinter denen die Kunst „rohe“, dunkle Orte gefunden hat. In der ersten Halle hat der US-Amerikaner Michael Portnoy einen riesigen, braunroten Schlammberg aus Lehm aufschütten lassen. Die Arbeit, an deren Rändern Wasser heraus sickert, nennt er „27 Gnosis“ (siehe Foto). Der Berg an sich und in dieser Halle ist schon sehenswert; die Überraschung folgt, wenn man eine Leiter hinaufsteigt und in das Innere des Hügels sieht.

Hier befindet sich die Einrichtung einer Gameshow, die während unseres Besuches leider nicht aktiviert war. „Nachmittags und abends leitet der Künstler vor einem wechselnden Hintergrund eine Spielshow an, die Angst, Erheiterung und Durcheinander geschickt ausnutzt und unvermittelte Wechsel in Inhalt, Kontext und Perspektive wie auch bei der Beleuchtung und im Maßstab aufweist. Sich auf das Absurde und Unheimliche stützend, zieht der Künstler die Besucherinnen und Besucher in das Spiel hinein und erzeugt eine Atmosphäre, die berauschend und furchteinflößend zugleich ist“, schreibt die Documenta. Verstehen muss man das aber nicht, Sehen reicht auch schon (siehe Foto).

In der zweiten Halle hat der rumänisch-ungarische Installationskünstler und Bildhauer István Csákány „The Sewing Room“ aufgestellt. Eine vollständige Nähwerkstatt mit komplett eingerichteten Arbeitsplätzen, mit Nähmaschinen, Bügelmaschinen und Neonröhren an der Decke. Mit großer Liebe zum Detail hat er die gesamte Fabrik aus Holz geschnitzt (siehe Foto). Wie lange er dafür gebraucht hat, ließ sich nicht feststellen.

Wenn der Betrachter will, kann er die Installation als Kritik an der Massenproduktion, der Ausbeutung und am Kapitalismus ansehen. Auf dem Rückweg zum Hotel kamen wir übrigens am Modehaus Sinn Leffers vorbei. Im Schaufenster war eine Kollektion des New Yorker Konzeptkünstlers Seth Price zu sehen, die auch im Haus verkauft wird. Das Schaufenster wurde gleichfalls von Seth Price gestaltet (siehe Foto), ebenso stellt er weitere Stoffskulpturen im Südflügel des Bahnhofs aus.

Impressionen von der dOCUMENTA 13 in Kassel (6)
Etwa dreißig Kunstwerke gibt es an den Gleisen und in den sogenannten Nord- und Südflügeln in den ehemaligen, jetzt wilden Backstein-Lagerhallen, des Kulturbahnhofs zu entdecken. Sechs Arbeiten von sechs Künstlern möchte ich heute und morgen vorstellen. Allein diese Werke lohnen die Anreise nach Kassel.
Die zyprische, in Berlin lebende Künstlerin Haris Epaminonda zeigt zusammen mit dem deutschen Daniel Gustav Cramer in einem einstigen Bürohaus des Bahnhofs über zwei Stockwerke und auf dem Dachboden, die Rauminstallation „The End Of Summer“ (siehe Foto).

Die Künstler verwandeln die Räumlichkeiten in eine durchorganisierte, labyrinthische Bühne, in ein imaginäres Museum. Zu sehen sind fotografische Dokumente, vorgefundene Bilder, Gegenstände und Artefakte aus verschiedenen Kulturen. Diese sind in Gruppen aufgeteilt oder auch über die Räume verteilt. Es handelt sich um eine ästhetische und konzeptuelle, aber auch poetische „Erzählung“, deren Enträtselung in einem der oberen Räume in Form eines Briefes stattfindet. Die bisher schönste und beste Arbeit der Documenta 13 (siehe Foto).

Als Krönung sehen wir den im Rohzustand belassenen Dachboden des Hauses, der in starkem Kontrast zu den vorhergehenden Räumlichkeiten ohne jegliche Fenster steht, denn hier zaubert die Sonne durch die kleinen Dachluken herrliche Lichteffekte in den Raum. Wie auch die anderen Räume, war aber auch der Dachboden minimalistisch „eingerichtet“: drei schwere, große Eisenkugeln (siehe Foto), mehr nicht.

Das gesamte Haus wurde sicher baupolizeilich abgenommen, davon zeugt auch der Notausgang auf dem Dachboden, der auf das schräge Dach mündete. Wie sollte man von dort flüchten können? Mein letztes Foto zeigt die Antwort.

Impressionen von der dOCUMENTA 13 in Kassel (5)
Ein weiterer Standort der Documenta 13 ist der Haupt-/ Kulturbahnhof von Kassel. Jonathan Borofskys „Man Walking to the Sky“ („Himmelsstürmer“), die Ikone der documenta 9 (1992), ist mittlerweile vom Friedrichsplatz hierher „umgezogen“ (siehe Foto), stürmt noch immer dem Himmel entgegen und hat nichts von seiner Aussagekraft verloren.

Es ist noch früh am Morgen und eine Documenta-Mitarbeiterin weist darauf hin, dass noch alles geschlossen sei, wir uns aber schon einmal den „Schrotthaufen“ ansehen könnten. Gemeint ist das Werk „Momentary Monument IV“ der Italienerin Lara Favaretto am Ende des ehemaligen Güterumschlagsplatzes. Der Fotograf hat eine herrliche Aussicht auf Kunst, alte Gleise, eine wild wuchernde Natur (siehe Foto) und da es früh am Morgen ist, trüben ausnahmsweise auch erst wenige Kunstbegeisterte seine Sicht.

Lara Favaretto hat hier mehrere Lastwagenladungen voller Metall-Schrottteile aus Kasseler Recyclinghöfen auskippen lassen. Der Blick auf vierzig Tonnen Altmetall lässt eine fremde Welt entstehen, in der es immer wieder etwas Neues zu entdecken gibt, je nachdem, wo man gerade steht. Das Werk ist eine einzige amorphe Masse. Man sollte es sich nicht entgehen lassen (siehe Foto).

Aus diesem Schrotthaufen nimmt Favaretto einzelne Teile heraus und präsentiert sie museal in einem Raum innerhalb der Lagerhallen (siehe Foto). Die entstandenen Lücken im Schrotthaufen füllt sie mit ähnlichen Teilen aus rohem Zement aus. „Im Denken der Documenta gewinnt auch der Schrott eine Schönheit eigenen Rechts“ [DIE ZEIT].

Über den 1850 gebauten Bahnhof wurde bis 1991 der gesamte Fernverkehr abgewickelt; heute läuft dieser über Kassel-Wilhelmshöhe. Der ehemalige Hauptbahnhof wird unterdessen nur noch für den Nahverkehr genutzt; große Teile des Bahnhofs stehen leer, werden gewerblich vermietet oder für Ausstellungen bespielt.
Impressionen von der dOCUMENTA 13 in Kassel (4)
Nach den künstlerisch nicht so ganz überzeugenden Eindrücken im Fridericianum und in der Documenta-Halle suchten wir einen Ausgleich in einem Außenbereich der Documenta 13, dem anderthalb Quadratkilometer großen barocken Landschaftspark Karlsaue an der Fulda, der zum ersten Mal als Ganzes in die Documenta einbezogen wurde. Es wurde der längste Kunst-Spaziergang, den ich je machte.

Die Karlsaue ist ein um 1570 symmetrisch angelegter Lustgarten mit Perspektivachsen und künstlichen Kanälen. 1785 wurde er zu einem Englischen Garten umgestaltet. Seit 1959 dient er auch als Veranstaltungsort für die Documenta. In der Nähe der Orangerie erblickt man bereits von der „Schönen Aussicht“ aus, einen „toten“ Baum, in dessen Geäst irritierenderweise ein riesiger Granitfindling gestrandet ist (siehe Foto). Erst wenn man sich dem Werk weiter nähert, kann man erkennen, dass der neun Meter hohe Baum aus Bronze besteht. Der schwere Stein muss vom Himmel gefallen sein und erinnert gleichsam an eine Wolke, die sich dort niedergelassen hat. Die Gesetze der Schwerkraft sind überwunden. Das irritiert gewohnte Denkweisen und stellt sie auf den Kopf.

